Jörg Buttgereit - Nicht Jugendfrei! Tagebuch aus West-Berlin (Martin Schmitz Verlag)
Irgendwas ist hier anders. Der Film ist zu Ende. Gesehen haben wir den modrigen Jörg Buttgereit Streifen „NEKRomantik“ (1988). Natürlich sind wir alle noch zu jung für solch ein Programm. Vermutlich war ich 13 oder 14 Jahre alt. Und natürlich haben wir den Film auf einer echt schlimm aussehenden Bootleg VHS gesehen. Mit farblos kopiertem Cover des tollen Artworks von Andreas Marschall (Masks, 2011). Keine Ahnung was wir erwartet haben. Jedenfalls nicht DAS! Buttgereit war uns als Name schon ein Begriff: „Der hat das Killer Kondom in „Kondom des Grauens“ (1996) gemacht! Und das hier is'n alter Film von ihm. Voll krass, da bumsen die Leichen!“ Das mussten wir dann natürlich gucken. Im Gegensatz zu anderen Splattererlebnissen ließ uns das hier nicht kalt. Lustig war es nicht so richtig, eher beklemmend und verwirrend. So richtig wussten wir nichts damit anzufangen. Auch in dem Alter waren wir relativ abgebrüht was filmische Abgründe anging, doch „NEKRomantik“ konnte uns was anhaben. So erging es mir zu dem Zeitpunkt nur mit zwei weiteren Filmen, die bei mir ein ähnliches Gefühl hinterließen: Wes Cravens „Das letzte Haus links“ (1973) und „Die 120 Tage von Sodom“ (1975) von Pier Paolo Pasolini. Alles drei Filme zu denen ich bis heute widersprüchliche Gefühle hege, die mir aber auch irgendwie wichtig sind.
Mit „Die 120 Tage von Sodom“ erging es Jörg Buttgereit wohl sehr ähnlich wie mir. Dies und vieles mehr offenbart er uns mit seinem neuesten Buch durch biographische Erlebnisberichte und kindlichen Tagebucheinträgen. Über die Liebe zu Kaijus und klassischen Universal Monstern hangeln sich seine Erzählungen am Familienleben entlang zu seinen ersten Konzerten, fanatischer Liebe zu (echten) Bruce Lee Filmen bis hin zur Jugend in der Punk- und filmischen Subkultur. Musik- und Filmfans freuen sich über viel Rumgenerde, wer nicht tief in der Materie ist, der*dem wird hier aber genug Hintergrundwissen vermittelt. Auch ohne zu wissen, wer eigentlich „Willard“ (1971) und „Ben“ (1972) sind, ist man hier nicht aufgeschmissen.
Meine Highlights sind sicherlich die Erlebnisse in dreckigen Punkschuppen, aber vor allem ist Buttgereit eine unendliche Informationsquelle, wenn es um die Geschichte alter West-Berliner Kinos geht. Allein damit ließe sich sicherlich ein gesamtes Buch füllen, das mich toll unterhalten würde.
Buttgereit schreibt sehr unterhaltsam, oft amüsant und immer kurzweilig. Private Momente werden nicht verschwiegen, aber auch nicht emotional in den Mittelpunkt gerückt. Insgesamt ist das alles sehr sympathisch und wundervoll aufgefüllt mit Konzertfotos, Privataufnahmen, Filmpostern und Konzertflyern.
Und ja, natürlich geht es nicht nur um Buttgereits Jugend, sondern auch um sein künstlerisches Schaffenswerk. Von den ersten Kurzfilmen aus dem Kinderzimmer, bis hin zu „NEKRomantik“ und „Schramm“ (1993). Auch seine Hörspiele und die Arbeit beim Theater bekommen genügend Raum. Zentraler Teil des Buches ist natürlich der Versuch, seine Arbeiten zu verbieten, und sein Schaffen zu kriminalisieren nachdem „NEKRomantik 2“ (1991) von bayrischen Sittenwächter*innen entdeckt und für gewaltverherrlichend erachtet wurde.
Wahrscheinlich genau das, was die meisten Leser*innen am meisten interessieren wird. Für mich persönlich bleiben aber die Geschichten aus Kindheit und Jugend deutlich interessanter. Schließlich haben die Ereignisse rund um „NEKRomantik“ schon genügend Bücher und Audiokommentare gefüllt.
Das Buch erscheint im Martin Schmitz Verlag und kommt als qualitativ hochwertiges Hardcover daher mit vielen bunten Bildern. Was will man mehr?
8,7 von 10 Feuerspeiende Weltraumschildkröten