Tomie – Es gibt kein Entkommen (Carlsen Manga)
Tomie ist ein hübsches, sonst aber eher wenig auffälliges, Schulmädchen der Oberschule. Eines Tages jedoch, kommt sich nicht von der Schule zurück nach Haus. Wenig später werden überall in der Stadt Leichenteile gefunden, Teile der ermordeten Tomie. Bald darauf ist ihre gesamte Schule und der Rest der Stadt in Aufruhr. Doch was dann passiert, sorgt für noch mehr Irritationen als der schreckliche Mord an dem Mädchen: Tomie erscheint ein paar Tage später fröhlich und gut gelaunt wieder in der Schule. Allerdings hat sich etwas verändert und nacheinander verlieren ihre Mitschüler*innen den Verstand und töten sich selbst.
Gemeinsam mit „Uzumaki“ stellt „Tomie“ wohl die bekannteste Arbeit des Horrormeisters Junji Ito dar. Allerdings handelt es sich hier im Gegensatz zu „Gyo“ und eben auch bei dem Spiral-Horror um eine Sammlung von Kurzgeschichten, die letztlich nur eine Gemeinsamkeit aufweisen, nämlich ihre Antagonistin und Titelgeberin Tomie. Insgesamt enthält der Hardcoversammelband von Carlsen Manga zwanzig Kurzgeschichten auf etwas über 750 Seiten. Somit enthält dieser Band alle ursprünglichen Kapitel der Tomie Saga. Wenn ich das richtig sehe, fehlen somit nur drei Kapitel, die später als Bonusmaterial der OVAs und Filme erschienen sind.
Tomie ist hübsch, hat glatte, lange schwarze Haare und ein unverkennbares Schönheitsmal unter dem linken Auge. Ihre Schönheit stellt sich schnell als Fluch heraus, denn jeder Mann und viele Frauen verfallen ihr sofort. Allerdings endet diese fanatische Art der Anziehungskraft jedes mal auf die gleiche Art. Ihre Liebespartner*innen töten sie früher oder später unterliegen sie dem überwältigenden Drang sie in kleine Stücke zu zerteilen. Damit endet die Geschichte für Tomie jedoch niemals. So lange auch nur ein Fetzen Haut, eine Haarsträhne oder irgendein Organ nicht völlig vernichtet wird, kann sich ihr Körper regenerieren und ihre Erinnerungen werden konserviert. Auch kann ihr Einfluss genutzt werden Menschen zu kontrollieren. Sie kann andere Körper als Wirte benutzen und sich tief in ihre Wahrnehmung einpflanzen.
Dabei erklärt Ito abseits dieser grundlegenden Ideen zu Tomies Existenz nur wenig über ihre Natur. Somit können wir in jeder Geschichte erneut überrascht werden, wie Tomie es nun erneut geschafft hat zurückzukehren. Schon bald lernen wir sie als Sektenanführerin, Sake-Geist oder tollwütige Haarsträhne kennen. An der Stelle hat Ito schon recht, zu viele Regeln würden hier nur schaden. Tomie kann halt alles was irgendwie gruselig erscheint. Trotzdem werden ihre Fähigkeiten nie zu zufällig und trotz all der Absurdität ist Tomie in ihrer selbstgeschaffenen Realität meist stimmig.
Dennoch liegt an dieser Stelle das Groteske und das schrullig Komische oft nahe beieinander. Allerdings bedeutet das nicht, dass es wirklich komisch wird, denn das Lachen bleibt einem schnell im Halse stecken und einige der Geschichten strahlen eine derart kalte, unmenschliche Brutalität aus, dass selbst erprobte Horrorfans der nächtliche Klogang vermiest wird. Jedenfalls erging es mir so mehrere Male.
Verantwortlich ist dafür Itos bekanntermaßen geniales Artwork. Atmosphärisch erschafft Ito eine Welt, die melancholisch märchenhaft erscheint, wie Albträume aus Edgar Allan Poes Feder. Manchmal kriecht der Horror langsam und schleimig in die Panels, voll mit für den Menschen unbegreiflichen Schrecken beladen wie es in Worten nur Lovecraft beschreiben konnte. Garniert wird das ganze dann noch mit Body Horror, den vielleicht nur noch Hideshi Hino abstoßender aufs Papier bringen könnte.
Was Ito mit „Tomie“ kreiert, ist immer wieder erstaunlich. Auch wenn einige Kapitel etwas schwächeres Artwork zeigen, funktionieren auch diese Geschichte nicht weniger effektiv als die bestaussehenden der Reihe. Teilweise sollte es nicht so perfekt funktionieren, denn oftmals sehen wir abstruse Ereignisse, die von allen anderen Autor*innen völlig lächerlich wirken würden. Ito gelingt es jedoch immer, aus jeder seiner oft so abseitigen Ideen packenden Horror zu erschaffen. Und somit ist dieser Manga für alle Horrorleser*innen ein Muss und gemeinsam mit „Uzumaki“ der perfekte Einstieg in das lange, umtriebige Schaffen des Künstlers.
9 von 10 Alkoholgeister