1997 war der Franzose Christophe André als Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen in der Stadt Nasran in Inguschetien, eine kleine russische Republik westlich von Tschetschenien, im Einsatz. In der Nacht vom 1. auf den 2. Juli schlief er erstmalig allein im Gebäude der NGO. Dies nutzten tschetschenische Separatisten aus um ihn zu überfallen. Christophe, der sich sicher waren seine Angreifer wollten nur das Geld aus dem Safe, schließlich war am nächsten Morgen Zahltag, wurde schnell eines besseren belehrt. Sie zerrten ihn aus dem Haus, steckten ihn in ein Auto und fuhren gen Osten nach Tschetschenien. Dort wurde er über die längste Zeit hinweg in einem kleinen Haus in einem Dorf nahe der Stadt Grosny, stets an das Rohr der Heizung gekettet, als Geisel gehalten. Christophe war insgesamt 111 Tage Geisel. Über 10 Jahre später traf er sich mit dem frankokanadischen Comicautor und Zeichner Guy Delisle. Dieser wandelte Christophes annekdotischen Erinnerungen zu einem weiteren seiner beliebten dokumentarischen Comics.
Erstmals hat Delisle einen dokumentarischen Comic geschaffen, der nicht seine Sicht und seine persönliche Meinung wiedergibt. Diesmal schildert er also die Geschichte einer anderen Person und zwar die von Christophe André, einem Mitarbeiter einer NGO, der 111 Tage Geisel in Tschetschenien war. Auf über 400 schildert er dazu den Alltag als Geisel. Stets wiederholen sich die wenigen gleichen Abläufe. Aufwachen, Frühstück, Hanschellen ab, Klogang, wieder festketten Abendbrot, schlafen und von vorn. All das mehrere Monate ohne Kontakt nach außen, ohne zu wissen ob überhaupt nach ihm gesucht wird. Die stärkste Leistung von Delisle ist dabei diesen Alltag nicht langweilig und monoton werden zu lassen, weil es eben genau das ist: Monoton.
Christophes Geschichte ist eben real und kein filmische Drehbuch. Seine Geiselnehmer sind keine Monster wie in Hollywood Filmen, eher nette Menschen, die ihn zufällig gefangenhalten, es gibt keinen aufwendigen Fluchtplan keine Action, nur jeden Tag die gleiche Prozedur. Die Abfolge der immer gleichen Bilder schafft es die Lesenden wie André selbst langsam zu zermürben, durch die inneren Monologe der Geisel bleibt die Handlung aber stets im Fluss und langweilt nicht. Schnell nimmt die Geschichte euch in ihren Bann und lässt euch mitfiebern. Teilweise war ich so sehr in der Geschichte, dass es unwirklich wurde, dass diese spannende Erzählung ein reales menschliches Schicksal wiederspiegelt, der Gedanke daran lässt dann natürlich nur noch mehr mitfühlen.
Das Artwork ist sehr typisch für Delisles Schaffen. Auf den ersten Blick sieht das, in verschiedenen Blautönen kolorierte, Artwork sehr einfach aus. Meist hält sich der Künstler mit Details zurück, vor allem verzichtet er auf künstlerische Kameraperspektiven und optische Spielereien. Durch diese nüchterne Art der Darstellung wird natürlich auch das dokumentarische, realitätsnahe Gefühl erhöht. Aber wie auch schon in seinen früheren Werken wird hier bei genauerem Hinsehen deutlich wie fein Delisle Emotionen und Zwischentöne ins Szene setzten kann. Wundervoll.
Fans des Künstlers greifen ohne langes Grübeln zu. Guy Delisle verspricht immer gute Unterhaltung, die zudem noch sehr gut informiert. Alle anderen sollten aber auch einen Blick riskieren „Geisel“ ist nämlich erzählerisch wie gestalterisch eine mit Fingerspitzengefühl umgesetzte wahre Geschichte die mitreißen kann.
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