Providence #1 (Panini)
Enthält die US-Hefte Providence #1-#4.
Der jüdische Zeitungsreporter und angehende Buchautor Robert Black hat den Heimatort seiner Eltern verlassen um in der Großstadt sein Glück zu finden. Nicht nur, dass er dort bessere Chancen sieht einen Job zu finden, er hat auch die Hoffnung im New York des Jahres 1919 seine Homosexualität etwas freier ausleben zu können als in der Kleinstadt. Jedenfalls so sehr es zu der Zeit möglich sein kann. Beim New York Herald Tribune hat er eine Anstellung gefunden, bei der er zumindest manchmal wichtige Artikel verfassen darf. Nach einer Reportage über die Beschlüsse der Versailler Verträge soll er nun noch eine halbe Seite mit etwas Füllmaterial fertig stellen. Aus der Not macht er eine Tugend und nutzt die Gelegenheit um sich mit Dr. Alvarez zu einem Interview zu treffen, dessen Arbeiten er sehr verehrt. Bei ihm angekommen stellt er erschrocken fest, dass der Doktor unter einer seltenen Krankheit leidet, die nur durch Kälte aufgehalten werden kann. Dieses Gespräch ermutigt ihn dazu weitere Recherchen für eine größere Geschichte zu veranstalten, dabei wird er jedoch immer mehr in eine unwirkliche Unterwelt gesogen.
Alan Moore hat es mal wieder getan. Mit seiner 12-teiligen Comicreihe Providence hat er wieder ein Werk erschaffen, das noch in vielen Jahren bei Fans für feuchte Augen sorgen wird. Gemeinsam mit dem Zeichner Jacen Burrows, mit dessen Hilfe er auch schon seine beiden vorherigen auf Howard Phillips Lovecraft basierenden Arbeiten „The Courtyard“ und „Neonomicon“ umgesetzt hat, erschafft er nun wieder einen Comic der viele Metaebenen bedient. Providence nimmt Lovecrafts Kurzgeschichten und fügt Elemente aus allen Werken Lovecrafts zusammen und bettet sie in ein gemeinsames Universum. In diesem Universum nehmen aber auch Moores „Courtyard“ und „Neonomicon“ platz, zu denen Providence zugleich Prequel wie auch Sequel ist. Gleichzeitig ist der Comic jedoch auch ein biografisches Werk über das Leben von Lovecraft. Das Ganze wird zudem noch spannender durch die überaus akribisch recherchierten politischen und gesellschaftlichen Umstände des Jahres 1919 in New York. Schon in diesen vier ersten Ausgaben geht es um die Emanzipation der Frau, Homophobie, Antisemitismus, Rassismus und Klassismus. Echte Nachrichten und Ereignisse wie das Ende des ersten Weltkriegs, die Versailler Verträge, Prohibition und den Streik der Schauspieler Gewerkschaft werden ebenfalls eingeflochten.
Burrows Zeichnungen sind dabei voller winziger Details und in jedem Panel wird sehr darauf geachtet, New York so darzustellen, wie es wirklich aussah. Das geht von der Kleidung der Passanten, über die Architektur der Stadt bis hin dazu, dass auch die Werbetafeln die zu der Zeit beworbenen Produkte widerspiegeln. Selbst bei Magazinen wurde darauf geachtet die richtigen Cover und Schlagzeilen der Daten zu zeigen. Teilweise auch wirklich akribisch bis aufs Datum genau. Ebenso genau hat Moore bei der Sprachwahl nachgeforscht und den damaligen Slang übernommen. Gerade da Robert Black Jude und ein versteckt homosexuell lebender Mann ist gibt es viele Dialoge in denen Black seinen Gesprächspartnern codiert hinweise auf seine sexuelle Ausrichtung gibt. Dabei gehen natürlich ein paar Feinheiten in der deutschen Übersetzung verloren, was nur schwer zu verhindern ist.
Moore erzählt die Geschichte von Robert Black, einer Figur, die auf einen Charakter des Cthulhu Mythos fußt. Nämlich auf Robert Harrison Blake aus „The Haunter of the Dark“ (Der leuchtende Trapezoeder / Jäger der Finsternis). Diese Figur wiederum beinhaltet teilweise biografische Züge aus dem Leben von H.P. selbst und ist viel mehr noch eine literarische Version von Lovecrafts Freund, dem Autoren Robert Bloch. Bloch hat unter anderem „Psycho“ geschrieben. Außerdem entleiht Moore Eigenschaften dieser Figur von einem weiteren Freund von Lovecraft. Nämlich von dem ebenfalls jüdischen Poeten Samuel Loveman, der eine lange Brieffreundschaft mit Lovecraft pflegte und erst nach dessen Tod, durch Lovecrafts Ex-Ehefrau Sonia Greene (die ebenfalls Jüdin war) von seiner antisemitischen Denkweise erfuhr und daraufhin alle Briefe seines verstorbenen Freundes verbrannte. Unter anderem basiert die Geschichte „The Statement of Randolph Carter“ (Die Aussage des Randolph Carter) auf einen Traum von Lovecraft der von Loveman handelte. Genauso wie „Nyarlathotep“ (Nyarlathotep) und das originale Skript von „Hypnos“ (Hypnos) wurde ihm gewidmet.
Robert Black gerät bei den Recherchen zu seinen Artikeln und zu seinem ersten Buch immer tiefer in den Schrecken des Cthulhu Mythos. Jede Ausgabe der Comicreihe basiert dabei hauptsächlich auf einer bestimmten Kurzgeschichte. Ausgabe eins erzählt Teile von „Cool Air“ (Kühle Luft), das zweite Heft behandelt die Geschehnisse von „The Horror at Red Hook“ (Grauen in Red Hook), im dritten dreht es sich hauptsächlich um „The Shadow over Innsmouth“ (Schatten über Innsmouth) und den Abschluss macht die Nummer vier mit „The Dunwich Horror“ (Das Grauen von Dunwich). Gleichzeitig wird sich hier jedoch auch an zig anderen Lovecraft Geschichten bedient.
Wie auch schon in „Die Liga der außergewöhnlichen Gentleman“ erschafft Moore aus vielen anderen popkulturellen Werken ein riesiges Universum. So ist es in Providence Realität, dass es im New York des Jahres 1919 Selbstmordkammern gibt. Diese gehen zurück auf eine 1895 veröffentlichte Geschichte von Robert W. Chambers. Laut der Science-Fiction Short Story „The Repairer of Reputations“ wird 1920 in New York die erste tödliche Kammer der Regierung eröffnet. Eine Science-Fiction Idee die spätestens durch die Cartoonserie „Futurama“ auch im Mainstream bekannt wurde. Generell spielt in Providence Chambers Kurzgeschichten Sammlung „The King in Yellow“ eine ziemlich wichtige Rolle.
Aber nicht nur die Story ist mal wieder ein wunderbares Flickenwerk, das sowohl Lovecraft Neulinge begeistern können wird und Kennern eine lange Schnitzeljagd durch Lovecrafts Schaffen beschert. Genauso sehr ist das Artwork voll mit feinsten Details und cleveren Ideen, sogar so sehr, dass jedes einzelne Panel näher betrachtet noch mehr Hinweise auf die Story preisgibt.
Oftmals unterfüttert Moore seine Comics mit Zusatzmaterial, wie zum Beispiel den Interviews, Tagebüchern und Sonstigem in „Watchmen“. In Providence gibt ebenfalls viele dieser Stilmittel. Nach jedem Heft gibt es einige Seiten lang Briefe zu lesen, die Teilweise einfach nur das Comicskript sind. aber in eine erzählerische Form gebracht. Dazu noch ein paar ominöse Zeichnungen und Zitate. Das meiste aus den Briefen kann man mit viel Geduld auch den bebilderten Seiten entnehmen, aber gerade Leute ohne Lovecraft Kenntnisse werden durch die Briefe einige Feinheiten verstehen, die ihnen sonst verschlossen geblieben wären. Zudem bekommt ihr im Trade von Panini noch eine Galerie mit all den vielen Variantcovern der Reihe.
Ein absolutes Muss für alle Lovecraft und Moore Fans. Ein Horror-Thriller mit Krimielementen, so voll mit popkulturellen Anspielungen wie die Liga (jedoch nicht so leicht zugänglich und offensichtlicher Natur) und teilweise akribischer recherchiert als „From Hell“. Großartig. Mein einziger Kritikpunkt ist die für Avatar typische Kolorierung mit der ich mich wohl nie abfinden werde. Ansonsten jetzt schon ein Klassiker für mich.
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