Als Teil einer italienischen Solidaritätsgruppe macht sich der Comickünstler Zerocalcare auf die Reise zum türkischen Grenzdorf Mehser ganz in der Nähe von Kobane, wo die kurdischen Befreiungskämpfer*innen den IS zurückgeschlagen haben. Dort versucht er bei einfachen Arbeiten so gut zu helfen wie er kann um später zuhause in Form seiner Comics diese einmalige Revolution auf Papier zu bringen. Als er wieder Zuhause die Nachricht bekommt, das die selbstverwalteten Kampftruppen YPG (gemischte Verteidigungseinheit) und YPJ (Fraueneinheit) Kobane von den Dschihadisten befreien und sie in die Grenzen des freien Kantons Rojava vertreiben konnten, packt ihn erneut das Reisefieber. Diesmal aber mit einer kleineren Gruppe und nicht nur in die Türkei. Diesmal will er nach Syrien und Kobane erleben, um zu sehen was an den Nachrichten über die dort entstehende freie Gesellschaft und die Idee der Gleichberechtigung dran ist. Auch in die nordirakischen Gebirge soll es gehen, wo die Kämpfer*innen der PKK ausgebildet werden.
Zerocalcare, seit einiger Zeit einer der vielversprechendsten jungen Comickünstler Italiens, bekommt nun endlich auch hier bei uns die verdiente Aufmerksamkeit und dann auch noch gleich mit seinem inhaltlich großartig gewordenen Kobane Calling. Die Thematik, der er sich hier annimmt, ist eine weite und ist vor allem ungeheuer komplex. Allein nur den Syrien Konflikt in einem Comic zu erklären würde vielen Künstlern entweder nicht oder nur sehr trocken gelingen. Er bezieht jedoch noch auf ein viel kompliziertes Thema, nämlich auf die Befreiungskämpfe in Kobane und den dort entstehenden Demokratischen Konföderalismus, der natürlich auf die Geschichte der kurdischen Revolutionär*innen ist. Alles nicht einfach.
Trotzdem schafft er es meist mit einer locker wirkenden Erzählart, die immer den Punkt trifft. Dabei werden einige Fakten abgekürzt oder vereinfacht und vor allem viele seiner erlebten Momente glatt gebügelt um den Lesefluss zu sichern. Vor Ort war vieles sicherlich sehr viel schwerer als es jetzt wirkt. Aber es funktioniert vermutlich gerade deshalb so gut, weil Zerocalcare selbst klar sagt, was er warum verändert oder simplifiziert hat. Zugleich werden viele Sachverhalte ebenfalls für die nerdigen Leser*innen leichter verdeutlicht in dem er vergleiche zu bekannter Popkultur aus Kino, Manga und Comic herbeizieht. Somit bleiben seine Erlebnisberichte auch während politischer Erklärungen und auch bis zum Ende der über 260 Seiten sehr kurzweilig und trotzdem informativ und gekonnt recherchiert. Überhaupt ist es sehr beschreibend das ein zeckiger Comiczeichner im saloppen Ton emotional und teils auch faktisch die Situation in Rojava, die Verbindungen zwischen Türkei, den Kurd*innen, Syrien und dem sogenannten IS so viel besser aufs Papier bringt als so manche Politikwissenschaftler*innen es in langen Talkshows schaffen.
Die Zeichnungen sind gänzlich in schwarzweiß gehalten und haben einen typischen Cartoonstil. Durch diesen Stil wirkt es dann auch nicht wie ein Fremdkörper wenn Zerocalcare Menschen die nicht erkannt werden wollen, als anthropomorphe Tiere zeichnet oder das Mammut aus seinem Heimatort ihm erscheint. Auch Armadillo sein imaginärer Gürteltierfreund aus seinem ersten Comic „Armadillos Prophezeiung“ sowie das Cartoon Schwein Georg Wutz aus der Serie „Peppa Wutz“ darf nicht fehlen. In farblich gekennzeichneten Infoboxen (eingefärbt damit ihr sie nicht lesen müsst wenn ihr die politischen Geschehnisse schon kennt) bringt er platzsparend und kondensiert möglichst alles benötigte Grundwissen unter.
„Kobane Calling“ ist ein emotionaler, sehr ehrlicher Comic Reisebericht aus Kobane. Teilweise mit etwas viel Pathos erzählt, was aber durch die emotionale Verbindung des Künstlers mit dem revolutionären Projekt zu erklären ist. Der Comic informiert allerdings nicht nur, sondern stößt auch den Finger darauf das an jedem Ort der Welt derzeit viele Freiheiten genommen werden für die viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Und das in Rojava Menschen für die Idee der Gleichberichtigung ihr Leben opfern und somit die Werte verteidigen, die wir immer meinen für uns gepachtet zu haben, aber schon seit langem nicht mehr aktiv verteidigt haben obwohl es nötiger denn je ist.
9,2 von 10 grimmige Mammuts