Montag, 1. Oktober 2012

Große Fragen (Atrium)

Große Fragen (Atrium)

Auf dem Land lebt eine alte, kranke Dame mit ihrem geistig behinderten Enkel. Jeden Morgen nach dem Frühstück bringt sie den Finken auf dem Hügel die Krümel zum Essen. Eines Tages landet ein Blindgänger ganz in der Nähe und die Finken versuchen, ihn auszubrüten. Während einige von ihnen nicht glauben, dass es ein Ei ist, sind sich andere sicher, dass in diesem riesigen Ei Gott schlafen muss. Jedenfalls gibt es noch viele andere Theorien. Ein paar Finken versuchen, es trotzdem auszubrüten, wodurch es bald zur Katastrophe kommt. Nicht viel später stürzt ein Kriegsflugzeug in das Haus der alten Dame. Ihr Enkel denkt sich nichts dabei, die Dame stirbt. Einer der Finken wird von einer Schlange entführt und aus dem Flugzeugwrack entsteigt der Pilot, der ziellos umher irrt. Tage später verweben sich alle Vorgänge miteinander und schreckliche Dinge nehmen ihren Lauf.

Fünfzehn Jahre lang arbeitete Anders Nilsen (Monologues for the Coming Plague) an seinem ersten Comic. Zwischenzeitlich brachte er ein paar Graphic Novels heraus. Sein erstes Werk war aber immer noch nicht fertig. Angefangen mit ein paar humorigen Strips über kleine Vögel, die versuchen, die großen Fragen des Lebens zu klären, die er noch in der Kunstschule in einem Kurs für kreatives Zeichnen erschuf, mutierte die Geschichte über die Jahre. 2011 konnte er seinen Opus Magnum endlich beenden, der nun auch beim Atrium Verlag in der Übersetzung von Tim Jung erschienen ist. Auf stolze 600 Seiten bringt es der philosophische Ausflug in die Welt der Vögel nun.

Dabei beginnt alles so freundlich und auch höchst komisch. Zuerst identitätslos wirkende Vögel stellen große Fragen. Sie wollen wissen, woher das Saatgut kommt, das sie verputzen, wo die Bäume hingehen, wenn sie gefällt werden, und ob alles im Leben einen Sinn hat. Und wenn ja, welchen? Ein ganz besonders interessierter Vogel fragt sich, ob er durch seine eigene Kraft die Welt noch retten kann, die an so vielen schlimmen Dingen krankt. Noch ist der Comic leichtfüßig, sehr clever geschrieben und durch die rohen Zeichnungen interessant zu lesen. Es dauert aber nicht lange, bis sich erste schlimme Ereignisse ankündigen. Ein einschüchternder Schatten kündigt die Bombe an, die bald in den Schwarm Vögel stürzen wird. Außerdem werden wir mit der Erkrankung des Enkels und der Zerbrechlichkeit der Großmutter konfrontiert.

Von hier an dreht sich die Geschichte. Kurzzeitig bleibt es noch komisch, aber die Pointen der Geschichten bleiben aus. Denn die Strips enden damit, wie wir sehen wie eines der putzigen Tiere von einer Schlange entführt wird oder ein anderer seine Neugier einer Eule gegenüber mit dem Tod bezahlen muss. Während der Humor also nur noch unterschwellig vorhanden ist und zu einem pointenloses Dasein verdammt wurde, entwickeln die einst so gleich anmutenden Vögel sehr eigene Charaktereigenschaften und wir lernen vieles über sie und ihr Leben. So wird aus jedem einmal namenlosen Vogel ein guter Bekannter. So zum Beispiel Leroy Bones, der nach seinem Tod durch den Schnabel der Eule als Skelett umherwandert. Oder Curtis, der heimlich in Betty verliebt ist und immer wieder versucht, seine Artgenossen von ihren Spinnereien abzuhalten.

So vielschichtig wie die Charaktere auf einmal werden, so verändert sich auch das Artwork. Was gerade noch nur ein Strip in Rohform war, wird plötzlich zu einem wortlosen Experimentalcomic, der weit entfernt von den Klischees des Mediums zu verorten ist. Zeichnungen werden diffuser, feindlicher oder auch sehr viel detaillierter mit fantastisch eingesetzten harten Kontrasten und großflächigen Schatten. Bewegungsabläufe werden mal dezidiert aufgezeigt, dann wiederum nur noch dezent angedeutet oder ausgespart. Mal tummeln sich auf einer Seite über 20 Panel, von dem jedes vollgestopft ist mit Dialogen, dann werden wieder Emotionen auf genauso genaue Art nur durch 2 einfache Bilder dargestellt. Nicht immer sind Details vonnöten und das ist Nuílsen bewusst. Oftmals reichen wenige Striche, um alles zu zeigen und zu sagen, was jemanden interessieren könnte. Andererseits bricht er aber sogar das Format auf und lässt eine Splashpage gleich über drei Seiten, durch eine ausfaltbare extra Seite, haarfein die Zerstörung durch ein Flugzeug zeigen.

Lautmalereien werden optisch ansprechend untergebracht und sogar jede Kapitelüberschrift hat ihren bestimmten Platz und wird feinsäuberlich in die Struktur der Seite eingearbeitet. Somit werden die erzeugten Emotionen nicht durch Fremdkörper beeinflusst und alles wirkt wie eine in sich geschlossene Welt. Wo wir gerade bei Gefühlen sind: Zu Beginn freute ich mich wirklich über die leichte Art und den intelligenten Humor. Doch dann schwingt die Stimmung so schlagartig um, dass man erstmal eine Pause braucht. Es wird so plötzlich düster und auch unfassbar traurig. Allein wie der Todeswunsch und das suizidale Verhalten von einem der Vögel dargestellt wird, kann einem das Herz brechen. Vermutlich ist auch alles, was ich vorher geschrieben habe relativ egal. Man muss nur wissen, wie emotional bewegend das Lesen der großen Fragen ist. Dieser Comic-Band ist voll mit echten Gefühlen, die vom Künstler direkt an den Leser weitergereicht werden und oftmals mitreißend wirken. Letztendlich findet weder der Kunstschaffende, noch der Konsumierende oder die Charaktere dieser Geschichte einen klaren Sinn in der chaotischen und meist mehr als absurden Welt. Wenn man kleine Ausschnitte betrachtet, macht aber vieles Sinn und man findet auch in den traurigsten Momenten etwas Schönes und in jedem schönen Moment etwas Trauriges. Zumindest fühlt jeder der Beteiligten etwas bei den Geschehnissen und das ist doch schon mal ein Anfang.

Der Comic ist in Schwarzweiß gehalten und kommt sehr wuchtig daher. Das gebundene Hardcover ist dick und auch die Seiten werden mehrmaliges Lesen gut überstehen. Ein dicker Brocken, der nicht nur schwer in der Hand liegt, sondern auch in Kopf, Magen und Herz.

10 von 10 Nester aus Knochen