Blau ist eine warme Farbe (frz. Le bleu est une couleur chaude) erfreut sich derzeit auf Grund seiner äußerst kontrovers diskutierten Film-Adaptation weltweiter Beliebtheit. Dies hat den angenehmen Nebeneffekt, das Julie Marohs Graphic Novel, die bereits 2010 in französischer Sprache erschien, nun auch in vielen weiteren Ländern der Welt erscheint.
Die Geschichte beginnt mit Emma, die in den Tagebüchern ihrer Freundin Clémentine zu lesen beginnt. Hierin enthalten sind alle Gedanken der jungen Frau, von den frühen Teenager-Jahren bis in die Gegenwart. Bereits in früher Schulzeit lernt Clémentine, die von ihren Freunden liebevoll Clem genannt wird, einen Jungen kennen, den süßen und sehr beliebten Thomas. Sie beginnt mit ihm auszugehen jedoch eigentlich nur, weil alle das für eine gute Idee halten. Er ist nett und liebevoll, aber irgendwie fühlt sich Clementine nicht so richtig wohl in ihrer Haut. Kurz danach begegnet ihr durch Zufall mitten auf der Straße ein Mädchen mit blauen Haaren, dass ihre Freundin im Arm hält. Die Blicke der beiden treffen sich und fortan geht ihr dieses blauhaarige Mädchen nicht mehr aus dem Kopf, besonders des Nachts hat sie intensive, sexuelle Träume. Die hierdurch aufkeimenden Zweifel an ihrer eigenen Sexualität, versucht sie jedoch schnell zu unterdrücken, da ihr gesamtes Umfeld dies als krankhaft und falsch ansehen würde. Sie versucht so normal wie möglich zu sein, zieht sich aber gleichzeitig aus ihrem sozialen Umfeld zurück, da ihre Gefühle nicht weniger werden wollen. Schließlich kann Clementine sich nicht länger verstecken. und vertraut sich ihrem guten Freundin Valentin an, der ihr ebenso von seiner Homosexualität erzählt. Zum Vergessen des schlimmen Schulalltags ziehen die beiden gemeinsam los in den Nachtklubs der kleinen Stadt Lille.
Hier trifft Clementine zum ersten Mal seit Wochen das blauhaarige Mädchen wieder, sie heißt Emma und in den nächsten Wochen sehen sich die beiden sehr oft nach der Schule. Alles scheint so perfekt zu sein, doch Emma ist noch immer mit ihrer Lebensgefährtin Sabine zusammen und es fällt ihr schwer sie zu verlassen. Clémentines Gefühle, die sie aus Respekt Emma gegenüber nie vollkommen ausgebereitet hatte, sind dadurch so gekränkt, dass sie sich zurückzieht. Getrennt von ihrer großen Liebe geht es ihr zunehmend schlechter, bis sich eine der beiden ein Herz fasst und die wahren Gefühle ausspricht.
Die emotional mitreißende Handlung setzt nicht auf großes „Boom Bang“, sondern schlägt ruhige und nachdenkliche Töne an. Erzählt wird sie uns durch Tagebuchauszüge von Clementine, die im weiteren Verlauf zum begleitenden Erzählelement werden. Sie bildet somit die Erzählerin ihrer eigenen kleinen Geschichte über unterdrückte Gefühle, Homosexualität und das Erwachsenwerden. Umrahmt wird die Handlung durch Szenen aus der Gegenwart, in welcher ihre Partnerin Emma in ihren gebunden Tagebüchern liest und sich so die Lebensgeschichte vor den Augen der LeserIn abspielt.
Die bereits erwähnten ruhigen Töne, zusammen mit einem angemessenen Erzähltempo, lassen Raum für die Entwicklung der Charaktere und sind somit exemplarisch für einen romantischen Coming-of-Age-Roman. Liebe ist dabei das leitende Motiv. Beginnend in den frühen neunziger Jahren in denen Homosexualität gesellschaftlich noch besonders verpönt gewesen war, bis heute zeichnet sich der Weg einer jungen Liebe, die zunächst schwere Konflikte in unserer Protagonistin auslöst. Konservativ erzogen fällt es Clementine sehr schwer ihre Gefühl für Emma anzuerkennen. Jene innere Zerrissenheit, das eigene Verlangen und die Unterdrückung durch eine immanente Umwelt, werden sehr gut in Einklang gebracht. Durch die geistige Nähe zu Clementine (auf Grund der innersten Gedanken aus ihrem Tagebuch) wird jede Euphorie und besonders die niederschmetternden Momente mit Schmerz und Selbstaufgabe, für die LeserIn erfahrbar. Was "Blau ist eine warme Farbe" jedoch unter den vielen ähnlichen Geschichten hervorhebt ist neben seiner absichtlich untypischen Charakterkonstellation besonders der sensible Umgang mit einem bis heute in der Gesellschaft nicht in Gänze angekommenem Gedanken, der gleichgeschlechtlichen Liebe. In diesem Punkt verzichtet die Autorin auf klischeehafte Stilisierung und konzentriert sich dabei mehr auf die Glaubwürdigkeit der agierenden Personen. Außerdem werden alle sexuellen Szenen nicht zum Selbstzweck verwendet sondern beschränken sich hier mehr auf den emotionalen Teil als auf die explizit visuelle Darstellung des Aktes. Eine gute Entscheidung, die grade an den wichtigen Stellen des Erwachsenwerdens für Authentizität sorgt.
Der grafische Bereich des Romans geht durch Julie Mahons persönlichen Linienstil eine gekonnte Symbiose mit der erzählten Geschichte ein. Etwas das zunächst bei einer Graphic Novel selbstverständlich klingt, doch bei weitem nicht in jeder gut umgesetzt wurde. Die Szenen der Gegenwart, also jene Momente in denen Emma die Tagebücher zur Hand nimmt oder sich kurze Momente emotionaler Pause gönnt, sind komplett mit allen Farben, in einem sehr hübschen Aquarellstil koloriert worden. Als Kontrast hierzu stehen die schönen graustufigen Zeichnungen der Tagebucherinnerungen in welchen der besondere Linienstil der Autorin, mit feinen Details und gewollter Ungenauigkeit seine Wirkung entfaltet. Besonders bemerkenswert ist der einzige farblich Akzent innerhalb der grauen Gedankenwelt. Emmas mit blauen Aquarelltönen eingefärbte Haare, die ihre symbolische Bedeutung unterstreichen. Besonders schön ist hieran die lange Entstehungszeit der Geschichte zu erkennen, da analog zum Fortlaufen der Ereignisse im Roman, die Zeichnungen ausgereifter und erwachsener wirken.
Die in Deutschland vom Splitter Verlag herausgebrachte Edition von „bleu est une couleur chaude“, überzeugte mich durchweg mehr als die englische Ausgabe. Begonnen bei einem Verzicht auf die unnötigen Hinweise „Now a major motion picture“ und Ähnlichem ist die Cover-Art deutlich näher am schlichten Original, weniger ist hier definitiv mehr. Ebenso ist die Entscheidung zu begrüßen, das Format leicht zu reduzieren, dafür aber ein angemessenes Hardcover zu verwendet, dass dem Buch eine novellistische Haptik verleiht. Dazu tragen auch die auf deutlich stärkerem Papier gedrückten Seiten und im Gesamteindruck eine gelungene Übersetzung bei.
"Blau ist eine warme Farbe" ist ein tiefgreifende Coming-of-Age-Geschichte, die durch ihre ruhigen Töne und die bittersüße Darstellung von Liebe, die über alle Geschlechtergrenzen hinweg funktioniert, eine erzählerisch, wie grafisch wunderbare Erfahrung.