Mister Nostalgia (Reprodukt)
Es ist ein freies Land und wenn Leute grässliche Popmusik hören wollen, kann man sie davon nicht abhalten. Problematisch ist, dass diese Menschen ihrem Unfeld ihren unsäglichen Musikgeschmack aufdrängen wollen. Vor allem für Menschen wie Robert Crumb ein wahres Gräuel. Der zauselige Comickünstler liebt nämlich nichts mehr als den Blues seiner alten Schellack Platten und wenn er dann ekelhafter Populärmusik ausgesetzt wird, gibt es fast nichts schlimmeres für ihn. Mister Nostalgia ist eine Sammlung einiger Kurzgeschichten über seine Liebe zu Musik früherer Zeiten. Über Schellack Platten, den Blues, Swing und Jazz der 20er und 30er Jahre, sowie darüber das früher vielleicht nichts besser war, einiges aber schöner und einfacher.
Auf knapp 100 Seiten bekommt ihr 16 Kurzgeschichten vom Comicmeister der Merkwürdigkeit. Fast alle davon handeln in irgendeiner Form von “früher” und von Musik. Einzige Ausnahme sind seine ganz eigenen Versionen der grimmschen Märchen “Frau Holle” und “Goldlöckchen und die drei Bären”, die in den 80ern im Weirdo Fanzine erschienen sind. Diese beiden Geschichten sind auch die einzigen, die nicht so richtig passen wollen. Also sie passen schon zur nostalgischen Ausrichtung, aber da sie die einzigen sind, die nichts mit Musik und direkt mit der Vergangenheit zu tun haben.
Die Kurzgeschichten sind mal wieder aus allen Epochen und Ecken von Crumbs Schaffen zusammengetragen. Angefangen bei “Sunny Side of the Street”, 1969 im Meatball #2 erschienen, bis hin zu “Hunting for old Records”, das erstmals 1999 im New Yorker abgedruckt wurde. Highlights sind unter diesen Geschichten ganz klar die, die sich mit historischen wenig beachteten Musikern auseinandersetzen. Wie “That‘s Life”, in der ein Gitarrist viele Jahre nach seinem Ableben doch noch zum kleinen Star wird als ein Plattensammler durch Zufall die letzte erhaltene Platte von ihm entdeckt. Höhepunkt des ganzen Bands ist zweifellos “Patton”. Darin wird der gesamte Lebensweg des Blues Musikers Charley Patton von Crumb erzählt. Ein spannendes Stück Musikgeschichte und ein Mann der viele der Künstler beeinflusst hat, die wiederum die Künstler beeinflusst haben die heute jeder kennt.
Beinahe ein Novum ist die Abwesenheit von Sex. Denn nur sehr selten thematisiert man hier Crumbs Fetische oder dergleichen. Stattdessen steht die Musik im Mittelpunkt. Neben Geschichten über alte Musikanten und Musikstile vergangener Tage geht es einige male auch ganz direkt um bestimmte Songs die zitiert und durch Crumbs Zeichnungen visualisiert werden. Für die Übersetzungen war Harry Rowohlt mal wieder zuständig, der es meist großartig versteht auch die verschrobensten und mit Slang gefüllten Dialoge einzudeutschen. Diesmal war er dabei teilweise zu akribisch, denn zum Beispiel bei den Songzitaten wäre es meiner Meinung nach sinnvoller gewesen, die Texte einfach beizubehalten. So geht gerade bei diesen Parts der Sinn etwas flöten.
Zu Crumbs Zeichnungen muss nichts mehr gesagt werden, sie sind wie immer voller Raffinesse, mal humoristisch einfach, mal detailverliebt, aber in jedem Fall jedes mal toll anzusehen, zeitlos und einmalig.
8 von 10 sprechende Schuhe