Ein Frühling in Tschernobyl (Splitter)
Am 26. April 1986 kommt es in der Ukraine, im Atommeiler des Ortes Tschernobyl zu einer Kernschmelze. Die darauf folgende Explosion vernichtet den gesamten Ort und schleudert eine riesige verseuchte Wolke in die Atmosphäre. Diese überzieht bald halb Europa und keine Regierung weiß so recht was zu tun ist. Während hunderttausende Helfer in der Sowjetunion ihr Leben aufs Spiel setzen um die verstrahlten Trümmer in den Reaktorsarkophag zu schaufeln und es über eine Woche dauert den Brand im Kern zu löschen, kann der Rest der Welt nur tatenlos zuschauen. Aus der Führungsriege in Moskaus heißt es, es seien nur zwei AKW Mitarbeiter ums Leben gekommen. Augenzeugen berichteten aber schon nach den ersten Stunden von über 2.000 Toten. Gleichzeitig wird in Deutschland der verzehr von frischem Gemüse als bedenklich eingestuft und Farmtiere nach Drinnen gebracht wurden, sagte die französische Regierung das Land sei nicht in Gefahr, nur um den lokalen Handel nicht zu schaden. Später musste man sich dann aber doch eingestehen, dass die Wolke sich auch über unseren Nachbarn entladen hatte.
Damals war der Comicartist Emmanuel Lepage 19 Jahre alt und schaute wie alle anderen fassungslos die Nachrichten. 22 Jahre später, im Jahre 2008, macht er sich auf den Weg in die Ukraine. Er möchte die direkt betroffenen Orte und ihre Bewohner besuchen. Er möchte in seinen Worten und Zeichnungen festhalten was aus den Anwohner wurde und ihre Geschichten konservieren. Doch bei der Fahrt kommen ihm Zweifel und umso näher er seinem Ziel kommt um so fühlbarer wird der Schrecken für ihn. Letztlich stellt sich die Frage ob er wirklich das richtige macht.
“Ein Frühling in Tschernobyl” ist Emmanuel Lepages ganz persönliche Tschernobyl Geschichte. Die 168 Seiten starke Graphic Novel beginnt mit einigen grundlegenden Informationen zu der Katastrophe, gefolgt von Lepages eigenen Erlebnissen mit der Berichterstattung. Was mich dabei doch sehr überrascht hat, ist dass man damals in Frankreich erst sehr spät damit begonnen hat die Bevölkerung über die Gefahren aufzuklären. Da war man bei uns schon etwas gewissenhafter. Der Zweite Akt führt den Künstler und einige weitere Personen seiner Berufsgruppe in die Ukraine. Dort besuchen sie betroffene Orte, lernen die Menschen, ihren Alltag und ihre Schicksale kennen und reisen auch in die verbotene Zone um Impressionen für ihre Zeichnungen zu sammeln.
Zu Beginn hat dieser Erlebnisbericht so seine liebe Mühe in Gang zu kommen. Zu lange bleibt der Erzählstil im Erzählermodus und wirkt dadurch gleich zu Beginn recht starr und teilweise auch einfach langweilig. Auch die etwas überspitzen, aber dennoch recht real gehaltenen Zeichnungen im grau braunen Matschton. Ich hätte es schöner gefunden wenn das Artwork auf den Seiten, die noch in Frankreich spielen etwas bunter gewesen wären. So fehlt nämlich irgendwie der Kontrast. Eigentlich müsste man erst bei den Bildern aus Tschernobyl von der Düsternis erdrückt werden, hier sieht es jetzt nicht viel anders aus als Frankreich.
Als die Künstler dann aber vor Ort ankommen wird das Ganze spannender und kurzweiliger. Die Art wie erzählt wird, macht einen lockereren Eindruck und realer. Einfach nicht mehr so bemüht. Es ist spannend die Arbeit und die Ängste der Künstler mit zu erleben und auch optisch kommt die Sache ins Rollen. Die Naturzeichnungen sind sehr detailreich und auch die Ruinen sehen fantastisch aus. Gleichzeitig eine Erinnerung an etwas so schreckliches, aber zur selben Zeit merkwürdig ästhetisch. Oftmals zeigt sich auch auf wie schöne Weise, die Natur sich ihren Platz in der verbotenen Zone zurück geholt hat. Visuell werden diese schönen Szenen durch farbenfrohe Tuschen rübergebracht, was das Artwork auf sehr positive Weise auflockert und eine wichtige Dynamik reinbringt, die zu Beginn fehlte.
Ein wichtiger Comic über einen Moment unserer Zeit, der dringend konserviert werden muss um nie in Vergessenheit zu geraten. Hat man den ersten eher zähen Akt erstmal hinter sich gebracht entwickelt sich der Comic zu einem spannenden und emotionalen Augenzeugenbericht.
7 von 10 entkernte Gebäude