Die offizielle Marvel-Comic-Sammlung #12 - Marvels (Hachette)
Dieser Sammelband enthält die US-Hefte Marvels #0-#4.
1939. Europa versinkt in den Flammen des zweiten Weltkriegs, Hitler und seine Unterstützer reißen den gesamten Kontinent und bald sogar den gesamten Planeten in einen schrecklichen Kampf. Zur selben Zeit herrscht in den USA, die noch nicht ins Kriegsgeschehen eingesprungen sind, eine große Depression. Unter den vielen hoffnungslosen Leuten ist auch der junge Phil Sheldon, der zur selben Zeit wie ein gewisser J. Jonah Jameson, seine Karriere als Fotoreporter beim Daily Bugle beginnt. Als solcher erlebt er hautnah mit wie die menschliche Fackel auftaucht. Dabei handelt es sich aber nicht um die Fackel der Fantastischen Vier, sondern um die allererste, die als erster Superheld gegen den Sub-Mariner angetreten ist. Zuerst waren diese Wesen noch vollkommen unglaublich, doch mit der Zeit tauchten immer mehr von ihnen auf. Da wäre zum Beispiel Captain America, der auftauchte als Amerika in den zweiten Weltkrieg eintrat.
All das war aber nur der Beginn einer ganz neuen Evolutionsstufe der Menschheit. In den folgenden Jahren tauchten nämlich auch eine große Gruppe von Mutanten, genannt die X-Men auf. Ihnen schlug unfassbarer Hass entgegen, an dem die Medien nicht gerade unschuldig waren. Ein großes grünes Monster forderte ein ganzes Superhelden Team, die Avengers heraus und dies war nur die erste Welle an Helden und Superschurken. Danach ging es Fall auf Fall. Die Fantastischen Vier hatten ihren ersten Auftritt und mit ihnen plötzlich auch angriffe aus dem All, wie von Galactus und seinem Herold dem Silver Surfer. Auch ein Mann im Spinnenkostüm machte seine Runden durch die Gassen New Yorks, unklar ob er zu den Guten oder zu den Bösen gehört. Und so muss die Menschheit und die gesamte Welt lernen mit den Superwesen umzugehen, so auch die Medien und vor allem die Journalisten. Dies ist die Geschichte von Phil Sheldon und davon wie er den Aufstieg der Superhelden miterlebt hat.
1994 erschien monatlich die vierteilige Miniserie “Marvels” bei Marvel. Eine mutige Reihe, denn Kurt Busiek, der kurz darauf in “Avengers Forever” erneut bewies wie belesen er in Sachen Marvel Universum ist, erzählt die wichtigsten Ereignisse des Marvel Universums hier aus der Sicht eines Nonames. Protagonist ist nämlich kein Held, kein Bösewicht und auch keiner der bekannten Supportfiguren. Wir sehen New York mit den Augen von Phil Sheldon, einem relativ unbeschriebenen Blatt. Gemeinsam mit J.J.J. beginnt er seine Karriere als Fotograph und erlebt als solch einer viele der unglaublichen Geschehnisse in der Metropole hautnah mit.
Eine mutige Idee! Mutig wäre es auch heute noch, in einer Zeit in der das Medium an einigen Stellen doch erwachsener geworden ist, auch wenn man davon leider nur selten etwas bemerkt. Aber in den Neunzigern, der Zeit von Schulterpolstern, dicken Wummen, halbnackten Heldinnen und Rob Liefeld war es eigentlich unvorstellbar eine Mainstream Serie zu erschaffen, in der es zentral darum geht den Fokus von der Action zu nehmen und zu zeigen was Drumherum geschieht. Zwei Punkte sind hierbei total genial. Einmal verschafft die Miniserie jedem Leser einen sehr umfangreichen Überblick über die Geschehnisse innerhalb des Marvel Universums der Jahre 1939-1974. Dabei werden sehr viele große Ereignisse angeschnitten und ein wenig erklärt. Zweitens sehen wie alles nur aus der Sicht von Phil. Bedeutet, wenn er nicht dabei war, bleiben uns nur die die Informationen von Augenzeugen und den Nachrichten. Alles was nicht direkt in New York geschehen ist, bleibt dadurch auch so ziemlich unerwähnt. Bei manchen Ereignissen ergibt sich daraus eine ganz neue sichtweise. Zum Beispiel wuchs in der Bevölkerung der Verdacht, die FV könnten vielleicht etwas mit Galactus zu tun haben. Ebenso spannend ist mit anzusehen wie das Volk auf die Panikmache vor den Mutanten reagiert. In diesem Punkt bekommen wir dank Sheldon einen sehr persönlichen Einblick, der letztlich zu einem ergreifenden Plädoyer gegen Rassismus anwächst. Sehr profitiert auch Gwen Stacys Tod von dieser Art des Erzählens. Denn so wird klar wie es für die Menschen ausgesehen haben muss, die mit angesehen haben, was mit dem Green Goblin und Spider-Man in dieser schicksalhaften Nacht auf der Brooklyn Bridge geschah. Natürlich kommen in den vier Heften noch einige tollte Momente dieser Art vor, die einen Eindruck davon vermitteln wie es vielleicht wäre, in einer solchen Welt voller Superhelden zu leben.
Neben diesen vier Heften ist auch die Nullnummer enthalten, die Busiek später schrieb und in der er auf zwölf Seiten die Vorgeschichte der ersten Fackel erzählt. Übrigens der einzige Moment dieser Reihe, den wir aus der Sicht eines bekannten Charakters erleben. Ich liebe es jedenfalls wie Busiek die Vergangenheit der Marvel Charaktere Seziert und im Schnelldurchlauf eine beachtliche Auflistung der wichtigsten Momente hinbekommt. Umso genauer man hinschaut, desto mehr Feinheiten entdeckt man, wie zum Beispiel Ghost Rider als kleines Kind, JJJ ersten Auftritt und noch viele viel besser versteckte Anspielungen und Querverweise.
Ein Riesenglück ist aber auch, dass man Alex Ross für die Serie Gewinnen konnte. Mit unendlich viel Ruhe und einer unfassbaren Detailverliebtheit macht er Marvels zu einem zeitlosen Werk, dem man niemals anmerken wird, dass es in den unansehnlichen Neunzigern entstanden ist. Falls man Comics mit einem realistischen Zeichenstil mag, dann ist Marvels gemeinsam mit dem zwei Jahre später von Ross illustrierten Kingdom Come von DC ohne Zweifel die beste Wahl die man treffen kann. So kreiert man Comics an denen sich der Zahn der Zeit das Gebiss ruiniert. Eine fantastische Arbeit. Zeitlos, wunderschön anzusehen, immer auf den Punkt und auch emotional einige male echt ergreifend.
Wie auch sonst, wurde bei dieser Hachette Hardcover Auflage nicht an Bonuskram gespart. Wie immer beginnt es mit einem Vorwort des Panini Chefs Marco M. Lupoi, gefolgt von einem des lustigen Opis Stan Lee, sowie Kurt Busiek und Alex Ross. Diese Vorworte sind aber nicht immer nur einen Absatz lang, sondern gehen jedes Mals über zwei Seiten. Hinzu kommt noch ein 10-seitiges Making-Of, in dem Alex Ross sehr genau seine Einflüsse und Ideen erläutert. Ein sehr interessanter Einblick in seine Arbeit. Außerdem enthalten sind die Originalcover und vier klassische Cover, die von Ross neuinterpretiert wurden, darunter so ikonische Titel wie Amazing Fantasy #15 und Fantastic Four #1. Eine beinahe perfekte Veröffentlichung, eines beinahe perfekten Comics. Es ist nur etwas schade, dass man nicht auch noch die Pin-Ups reingepackt hat, die in der US-Version die Nullnummer füllen. Wer aber einen höchst interessanten Comic über die Marvel Historie lesen möchte, sollte Marvels unbedingt im Regal stehen haben.
9,7 von 10 Tiefseerobokrabben